Bayer schien schon am Boden. Die Krise mit dann vier Niederlagen am Stück zementiert. Doch der beeindruckende Last-Minute-Sieg in Stuttgart bringt die Werkself nicht nur etwas näher an die Tabellenspitze heran, sondern in Abwesenheit von Topstar Florian Wirtz einen großen mentalen Gewinn.
Fantastisches Comeback des Meisters
Als Fernando Carro nach dem Leverkusener Last-Minute-Sieg durch die Mixed Zone zügig Richtung Kabine schritt, strahlte der CEO der Bayer 04 Fußball GmbH maximale Gelassenheit aus. Trotz des irren 4:3-Erfolges seiner Mannschaft, die schon 0:2 und 1:3 zurückgelegen hatte, wirkte der sonst so hoch emotionale Spanier ruhig, nicht aufgedreht, schon gar nicht aufgekratzt. Vielmehr erweckte er den Eindruck, Bayer 04 hätte gerade das Spiel gegen einen Regionalligisten in den letzten Minuten gedreht und eben nicht gegen einen über weite Strecken starken VfB Stuttgart.
Dabei hatte Carro einem Spektakel beigewohnt, das er mit zwei Worten perfekt zusammenfasste: „Wahnsinn, ne?“ Carro sprach diese und biss danach genussvoll in seinen mitgebrachten Snack, als hätte es die drei ernüchternden Niederlagen in Serie (zwei in der Champions League gegen Bayern München und eine in der Liga gegen Bremen) zuvor genauso wenig gegeben wie die ersten 45 Minuten dieses Fußball-Epos, in denen dem Double-Gewinner im Spiel nach vorne herzlich wenig eingefallen war.
Eine vierte Niederlage hätte Bayers Selbstverständnis erschüttert
Mit Mittelstürmer Patrik Schick und dem rechten Flügelspieler Jeremie Frimpong als den einzigen beiden Offensivakteuren war Bayer erschreckend harmlos geblieben. Doch Carro vermittelte fast den Eindruck, dass der beeindruckende Leverkusener Turnaround bezogen auf diese Partie genauso wie auf die jüngsten zwölf Tage in die Kategorie Selbstverständlichkeit einzuordnen gewesen wäre.
Der 60-Jährige strahlte damit die Souveränität aus, die die Werkself durch die gesamte Double-Saison getragen hatte. Dabei stand in Stuttgart nach dem Zwei-Tore-Rückstand nach der Pause gerade dieses Selbstverständnis auf dem Spiel. Die vierte Niederlage am Stück hätte dieses heftig erschüttert. Doch dieses Szenario hatte die Mannschaft mit einer meisterlichen Moral verhindert.
„Es war wichtig, als Truppe zu spüren, den Schalter umlegen zu können.“ (Simon Rolfes)
Ein Erlebnis, das Simon Rolfes von seiner Bedeutung her hoch einordnete: „Es war total wichtig, das zu drehen nach der Woche, in der wir enttäuscht waren. Wir haben ja auch nicht gut angefangen, hatten nicht die Griffigkeit, die wir am Ende gezeigt haben“, sagte der Geschäftsführer Sport, „das wiederzufinden, als Truppe, zu spüren, wir können den Schalter umlegen, ist wichtig. Auch dieses Gefühl, dass du am Ende dieses Spiel drehen kannst.“
Dementsprechend euphorisch fiel der Jubel aus, als Patrik Schick in der Nachspielzeit den Siegtreffer erzielte. Trainer Xabi Alonso hatte die Flanke von Frimpong fast selbst vor das Tor gespielt, so elektrisiert war der Spanier in der Schlussphase, dem der Vorlagengeber und der Siegtorschütze nacheinander in die Arme fielen. Mit dem 4:3 brachen emotional alle Dämme. Der 43-Jährige sprach danach bei DAZN selbst von einem „magischen Moment“, der das Spiel für sein Team entschieden habe.
Bayers Comeback war in der Tat ein grandioses. Der Trainer und seine Profis zelebrierten es auf dem Platz. Die Erleichterung nach drei Spielen, die Zweifel gesät hatten, ob die Werkself auch ohne die Zauberkünste eines Florian Wirtz zu so außergewöhnlichen Taten fähig ist, war mehr der Grund für die Ausgelassenheit als die nun mit „nur“ noch sechs Punkten Rückstand auf Bayern München wieder ganz leicht sprießenden Titelhoffnungen.
Die Erkenntnis, auch ohne den Topstar Wirtz ein solches kleines Fußballwunder vollbringen zu können, auf das mehr als 45 Minuten lang und bis zur Hereinnahme der beiden Angreifer Victor Boniface und Amine Adli nichts, aber auch gar nicht hingedeutet hatte, war die Erkenntnis dieses Spiels.
Dieses Comeback stellt großen mentalen Gewinn dar
Dass Bayer auch ohne den Ausnahmespieler einen fußballerischen Ausnahmezustand beim Gegner heraufzubeschwören vermag, stellt einen mental nicht zu unterschätzenden Gewinn dar. Vielleicht im Titelrennen, aber mit großer Wahrscheinlichkeit im DFB-Pokal, in dem Leverkusen im Halbfinale auf Drittligist Arminia Bielefeld trifft und im Erfolgsfall danach im Berliner Endspiel auf RB Leipzig – oder eben den VfB.
Kommt es in der Hauptstadt zur Neuauflage des Duells, wäre Bayers psychologischer Vorteil ein gewaltiger. Weil man unter Xabi Alonso alle acht Partien gegen die Schwaben nicht verlor.
Viermal hat Bayer 04 dabei durch Last-Minute-Treffer dem VfB ein schon sicher geglaubtes Erfolgserlebnis geraubt: zweimal in der Vorsaison durch Jonathan Tahs 3:2-Siegtreffer im Pokal-Viertelfinale und den späten Leverkusener Ausgleich durch Robert Andrich beim 2:2 nach 0:2-Rückstand im Liga-Duell in der BayArena. In der aktuellen Spielzeit durch Schicks 2:2 im letztlich im Elfmeterschießen gewonnenen Supercup-Finale sowie eben am Sonntagabend in Stuttgart.
Bayer hat sich den Status als VfB-Angstgegner erarbeitet
Die Duelle zwischen dem VfB und Bayer 04 liefern die Garantie für große Fußball-Dramen, die final nur einen Sieger kennen. „Am Ende gewinnen immer die Leverkusener“, würde Gary Lineker wohl in Anlehnung an seinen legendären Ausspruch nach dem Halbfinal-Aus der Engländer („Fußball ist ein einfaches Spiel: 22 Männer jagen 90 Minuten lang einem Ball nach, und am Ende gewinnen immer die Deutschen.“) bei der WM 1990 sagen.
Die Werkself hat sich den Status als Stuttgarter Angstgegner erarbeitet. Weshalb vielleicht auch Fernando Carro das wundersame Comeback seiner Mannschaft so gelassen verbuchte. „Wahnsinn, ne?“