Zum Inhalt springen Zur Seitenleiste springen Zur Fußzeile springen

St. Pauli: Der Zerfall

Wirkliche Anhaltspunkte, dass St. Pauli durch einen schmeichelhaften Pokalsieg (8:7 i.E.) womöglich über den Berg sein könnte, hatte schon der Pokalabend gegen Hoffenheim nicht hergegeben. Alarmierend ist, dass das Erfolgserlebnis nicht einmal Energie freigesetzt hat: Gegen Gladbach wurden 29.546 Zuschauer Zeugen eines regelrechten Zerfalls.

Blessins Klartext: „So kann es nicht weitergehen“

Es hätte keinerlei Symbolik bedurft, um die nach sechs Niederlagen dramatische Lage zu veranschaulichen. Es gab sie dennoch. Ausgerechnet in seiner dunkelsten Stunde als Trainer auf St. Pauli, Alexander Blessin referierte gerade über die immer wieder kehrenden Verhaltensmuster in dieser Saison, wurde es um 18:17 Uhr im Presseraum am Millerntor stockfinster.

„Ausgerechnet jetzt geht das Licht aus“, sagte der Coach und ahnte die daraus entstehenden bildlichen Vergleiche. Das Licht ging nach wenigen Augenblicken am Samstagabend wieder an, Blessin aber muss in den kommenden Tagen den richtigen Schalter im Umgang mit seiner Mannschaft finden. Denn allzu offensichtlich ist, dass er diesen aktuell noch nicht entdeckt hat.

„Viele verschiedene Gedanken, die nicht in die gleiche Richtung gehen.“

Blessins Auftritt nach der Partie unterschied sich ganz wesentlich von dem vorangegangenen seiner Spieler: Er war von Klarheit geprägt. Der 52-Jährige spricht alle sichtbaren Themen, das fehlende gemeinsame Verteidigen, die mangelnde Bereitschaft, die Harmlosigkeit im Angriff an. Dass er diese sieht, bereits seit Wochen thematisiert, aber nicht abgestellt bekommt, führt unweigerlich dazu, dass die Suche nach den Problemlösungen auch vor ihm nicht Halt machen kann.

Blessin wirkt desillusioniert davon, „dass wir es nicht schaffen, die Energie aus dem Pokalabend mitzunehmen.“ Noch mehr zu schaffen muss ihm machen, dass seine Formation augenblicklich keine Mannschaft ist. Die jüngste (Fehl-)Entwicklung oder die Mahnungen von Routinier Hauke Wahl, St. Pauli müsse wieder die Bereitschaft zum Verteidigen wie im Vorjahr erlernen, haben dies schon seit einigen Wochen vermuten lassen. So deutlich wie nun Blessin hat es noch kein Protagonist gesagt: „Wir haben viele verschiedene Denkweisen, es stellt sich auf dem Platz nicht so dar, wie es sein sollte. Da sind viele verschiedene Gedanken, die nicht in die gleiche Richtung gehen. Da müssen wir extremst drüber reden.“

Gewiss ist St. Pauli noch ein gutes Stück davon entfernt, dass auf dem Feld jeder macht, was er will. Mindestens aber ist es so, dass nicht jeder das macht, was er soll. Wenn Einzelne unterschiedliche Ideen haben, wann sie pressen und andere, in welcher Höhe sie verteidigen, dann kommt ein Spiel wie gegen Mönchengladbach heraus. Bei oberflächlicher Betrachtung wurde das 0:4-Debakel wie schon die 0:2-Niederlage in Frankfurt durch einen Fehler von Nikola Vasilj eingeleitet, ein genauer Blick aber offenbart: Die Probleme liegen deutlich tiefer und sind keineswegs am Torwart festzumachen. Blessin fordert: „Wir müssen in bestimmten und den entscheidenden Themen eine Sprache sprechen.“

Blessin hat einen Bonus

Der gebürtige Stuttgarter muss als Trainer die Sprache vorgeben. Und ist am Ende auch dafür verantwortlich, dass seine Worte verstanden und umgesetzt werden. Noch im Kreis auf dem Feld, verrät er, habe er seinen Profis mitgegeben, „dass es so nicht weitergehen kann.“ Aber: Wie geht es weiter auf St. Pauli? Blessin hat in der sportlichen Leitung aus nachvollziehbaren Gründen einen gewaltigen Bonus, weil er es im Vorjahr geschafft hat, die Spielidee komplett umzukrempeln und damit die Rettung zu schaffen. Offensichtlich ist seit Wochen, dass es ihm nicht gelingt, im Zuge der angestrebten spielerischen Weiterentwicklung die Sinne für die Grundelemente zu schärfen.

Blessin klingt konsterniert, wenn er sagt: „Ich hatte nach dem Pokalspiel am Dienstag gedacht, wir seien wieder auf dem richtigen Weg.“ Und er ist äußerst reflektiert, wenn er äußert: „Auch ich muss mich hinterfragen. Denn so kann es nicht weitergehen.“ Die tiefe sportliche Krise allein an den Neulingen, die zum Teil auch danach ausgesucht wurden, weil sie nicht die klassischen St. Pauli-Tugenden mitbringen, festzumachen, wäre zu einfach. Auch etablierte Kräfte wie Eric Smith oder Manolis Saliakas sind seit Wochen Lichtjahre von der einstigen Form entfernt, die Unruhe um Kapitän Jackson Irvine war ebenfalls ein Störfeuer, das zudem nicht konsequent ausgetreten wurde.

Wahl nahm als Vertreter der Fraktion Klartext am Samstagabend mehrfach das Wort „Mentalität“ in den Mund. Es ist eine Vokabel, die auf St. Pauli in der Vergangenheit selten gebraucht wurde, weil Mentalität als Grundvoraussetzung für den sportlichen Erfolg der letzten Jahre immer da war. Wenn der gebürtige Hamburger nun sagt, „wir müssen jetzt nicht so viel über Details reden, sondern über die Basics“, dann wird deutlich: St. Pauli ist gegen Mönchengladbach nicht zufällig in ein Desaster gestolpert. Es ist lediglich erstmals für jeden öffentlich sichtbar geworden, was sich bereits seit Wochen – in die falsche Richtung – entwickelt hat.

Die in Einzelteile zerfallene Gruppe wieder zusammenzufügen, wird eine große Aufgabe für den Trainer. Gegen Mönchengladbach versuchte er es mit einem aktionistisch anmutenden Dreifach-Wechsel zur Pause – und er sagt freimütig, dass dies auch ein Zeichen sein sollte. Dass St. Paulis Vortrag danach noch schlechter wurde, ist kein gutes Zeichen.

Hinterlasse einen Kommentar

0.0/5